Hintergrund
Im Jahr 2014 waren allein in Nordrhein-Westfalen mehr als 3,6 Millionen Menschen 65 Jahre und älter. Im Zuge des demographischen Wandels wird die Zahl alter Menschen weiter steigen und demzufolge auch ihr Bedarf nach einer traumasensiblen Unterstützung in Beratung, Therapie, Pflege und Begleitung. Dabei steht auch die Prävention vor neuen/weiteren Traumatisierungen im Fokus.
Trauma – was ist das eigentlich?
Was ist ein Trauma?
Von einem Trauma sprechen wir, wenn wir eine Situation erleben müssen, die uns bedroht und wir nicht bewältigen können. Dies muss nicht immer Gewalt im eigentlichen Sinne sein und muss auch nicht mit einer Lebensbedrohungen einhergehen. Auch Vernachlässigungen, Bindungsstörungen und -verluste, Trennungen, Mobbing, Demütigungen, ärztliche Untersuchungen u. v. a . m. können als traumatisch erlebt werden.
In einer Bedrohungssituation gibt es zwei Möglichkeiten damit umzugehen: Entweder gegen die Bedrohung anzukämpfen oder vor ihr zu fliehen.
Dazu wird durch Hormonausschüttungen ein Vielfaches an Kraft mobilisiert, mehr als wir gewöhnlich haben. Durch Hormonauschüttungen werden Energien bereitgestellt, insbesondere für die Muskeln (die wir in so einer Situation brauchen) also für Arme und Beine bereitgestellt, aber keine für das Gehirn.
Herzschlag, Kreislauf, Atmung, muskuläre Spannung sind hochgefahren und ermöglichen uns zu kämpfen, wegzulaufen oder Hilfe zu holen. Die Haut wird weniger schmerzempfindlich.
Verantwortlich für diese Reaktion sind unsere ältesten Gehirnregionen, die Menschen und allen Säugetieren eigen sind. Es wird ein Notfallprogramm aktiviert, ohne dass wir denken, planen oder überlegen müssen.
Die Teile unseres Gehirn, die für bewusstes Wahrnehmen, Denken und Einordnen zuständig sind, sind in diesem Moment abgespalten. In diesem Augenblick sind sie zum Überleben nicht notwendig, überflüssig u. U. sogar nachteilig, da wir manchmal blitzschnell reagieren müssen, ohne länger darüber nachzudenken. Wenn z. B. ein Auto auf uns zugerast kommt, müssen wir uns blitzeschnell versuchen in Sicherheit zu bringen und können nicht erst darüber nachdenken, ob der Fahrer nicht doch noch bremsen wird.
Traumatische Erfahrungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie unsere Verarbeitungsfähigkeit bei Weitem übersteigen. Wenn kämpfen oder fliehen nicht möglich ist, sind wir ohnmächtig, hilflos, ausgeliefert und möglicherweise in Todesangst.
Wenn also kämpfen oder fliehen nicht möglich ist, ist kommt es zu einem Erstarren, dem sogenannten Totstellreflex. Der dient dazu, das was passiert, möglichst nicht zu fühlen. Er kann auch dazu führen, dass die Wahrnehmung ausgeschaltet wird und wir uns somit nach dem Ereignis nicht an die Situation erinnern können oder nur bruchstückhaft. Die Energie, die zum kämpfen oder fliehen bereitgestellt und in der Erstarrung nicht abgerufen wird, speichert der Körper als Anspannung. Es kann zu einer Vielzahl von Symptomen = Traumafolgen kommen.
Hier einige Ereignisse, die traumatisch sein können / sind:
- Kriegs- bzw. Nachkriegserlebnisse, Transgenerationale Traumatisierung
- Unfälle
- Beobachtung des gewaltsamen Todes Anderer
- Folter
- Sexualisierte oder häusliche Gewalt (in der Vergangenheit und/oder aktuell)
- Gewalt in Behinderten-, kirchlichen und anderen (Erziehungs-) Einrichtungen
- fehlende Bindungen in der Kindheit, psychische Gewalt, Vernachlässigung, Verluste
- Kriegserlebnisse (aktuell und/oder im Kontext des Zweiten Weltkrieges, wie z.B. Flucht, Vertreibung, erzwungene Migration, Hungersnot, Bombardierungen, Vergewaltigungen)
- Verfolgung und Diskriminierung aufgrund von z. B. Herkunft, Glaube, sexueller Identität und Orientierung oder psychischen und/oder physischen Beeinträchtigungen
- Rassismusserfahrungen
- Traumatische Erfahrungen im Berufs- und/oder Alltagsleben
- Diagnose lebensbedrohlicher Erkrankungen u. v. a. m.
Im Blick sollte hierbei stets bleiben, dass Menschen auch im Alter von den gleichen traumatischen Ereignissen betroffen sein können wie in jungen Jahren. Dies gilt insbesondere für sexualisierte Gewalt. Und: Je älter ein Mensch ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, mindestens ein traumatisches Ereignis erlebt zu haben.
Zudem sind für diesen Lebensabschnitt mögliche spezifische Bedingungen zu beachten. So stellt Gewalt im Pflegekontext eine spezifische Form traumatischer Gewalt-Erfahrungen dar.
Hinzu können weitere belastende Ereignisse beispielsweise kommen: Pflegebedürftigkeit und Mobilitätseinschränkungen; chronische, physische, psychische und neurologische Erkrankungen; Stürze; Krankenhausaufenthalte; Umsiedlung in eine Alteneinrichtung; Amputationen und medizinische Eingriffe; Demenzerkrankung (eigene oder von Angehörigen). Auch der Verlust und das Wenigerwerden der eigenen Kraft und Wehrhaftigkeit können als existenzieller Einschnitt erlebt werden.
Weitere hilfreiche Informationen finden Sie zum Beispiel hier: https://be-here-now.eu/was-passiert
oder auf dieser Seite auch in verschiedenen Sprachen: https://www.refugee-trauma.help
Traumafolgen
Traumafolgen
Wie stark und dauerhaft Folgen von traumatischen Ereignissen sind, ob es überhaupt zu Folgen kommt, hängt nicht nur von der Schwere der traumatischen Erlebnisse und von der Persönlichkeit der Überlebenden ab, sondern ganz wesentlich auch von den Erfahrungen, die die/der Betroffene danach macht. Fortdauernde Unsicherheit, Abhängigkeiten, Gefährdung und Armut sowie insbesondere im Falle von sexualisierter Gewalt auch Stigmatisierung und soziale Ausgrenzung können die traumatische Folgereaktionen verstärken.
Traumatisierende Erlebnisse können Spuren in der Psyche eines Menschen hinterlassen. Dies ist kein Zeichen von individueller Schwäche.
Wie gut ein Trauma verkraftet und verarbeitet werden kann, hängt von vielen Faktoren ab. Hier spielen die individuelle Lebensgeschichte sowie das persönliche Befinden zum Zeitpunkt des traumatischen Geschehens ebenso eine Rolle wie bestehende Umgebungsfaktoren, Risiko- und Schutzfaktoren, aber auch die Schwere und Dauer der Traumatisierung. Glücklicherweise legen sich posttraumatische Beschwerden meist nach einer Weile. Die Selbstheilungskräfte lassen die sogenannte akute Belastungsreaktion abklingen und die Betroffenen können das Erlebte zurücklassen, ohne dass es sie im weiteren Leben bedeutend beeinträchtigt. Wirken jedoch mehrere belastende Faktoren zusammen, können sich posttraumatische Reaktionen chronifizieren, obwohl das traumatische Ereignis bereits Wochen oder Monate, zum Teil auch Jahre oder Jahrzehnte zurückliegt.
Mögliche Traumafolgen können sein:
Zittern; Schwitzen; erhöhte Herzfrequenz; erhöhter Blutdruck; Atemnot; Schüttelfrost; ständige Übererregung und Erwartung von Gefahr; Entscheidungsschwierigkeiten; Erinnerungsbilder (flashbacks), Alpträume, plötzlichen Gedächtnis-, Konzentrations- und Orientierungsstörungen, Angst- und Panikzustände, Dissoziationen (Abspaltung von Gefühlen und dem Denken), Schlafstörungen, Energielosigkeit, Reizbarkeit, Suizidgedanken, Halluzinationen, Zwänge, Essstörungen, Chronischen Schmerzen, unregelmäßigen Vitalzeichen, Blutzuckerschwankungen, u. v. a. m.. Diese und andere Symptome können direkt nach dem Ereignis oder auch später auftreten. Häufig werden sie auch ausgelöst durch erneute Ohnmachtssituationen oder ähnliche Situationen, Gegebenheiten, Dinge, die uns an das Ereignis erinnern. Das können auch Gerüche, Geräusche, bestimmte Redewendungen, Feiertage o. ä. sein.
Alle Reaktionen auf traumatische Erlebnisse sind normal und Folge eines unnormalen Ereignisses!
Die Reaktivierung lange zurückliegender Traumatisierungen steht häufig auch in Zusammenhang mit Umbrüchen und Veränderungen, beispielsweise der Berentung, dem Tod von Partner:in, Krankheit, Pflegebedürftigkeit oder Veränderung des Erinnerungsvermögens.
Durch aktuelle Erfahrungen von Ohnmacht, Autonomie- oder Kontrollverlust – wie zum Beispiel bei einer Pflege- oder Hilfebedürftigkeit oder bei Immobilität – kann es zu Erinnerungen an die früher erlebten Traumata kommen; hier spricht man von Trauma-Reaktivierung. Ebenso können Geräusche, Bilder oder Gerüche Erinnerungen auslösen. Hier spricht man von Triggern (Auslösern): Durch einen auslösenden Reiz wird die zurückliegende Situation in der Gegenwart / wie JETZT erlebt. Auch hier kann es zu den oben beschriebenen möglichen Symptomen kommen.
„Manche Menschen bezeichnen den Weg der Verarbeitung von traumatischen Verletzungen als Wachstumsprozess. Sie beschreiben, dass sie über eine erweiterte Beziehungskompetenz verfügen und sich neue Lösungs- und Handlungsmöglichkeiten erschlossen haben. Andere empfinden das Leben reichhaltiger, denn sie haben erfahren, dass es einmalig ist und längst nicht immer kontrolliert werden kann. Auch Fachkräfte können in der Arbeit mit traumatisierten Menschen durchaus wachsen, denn diese Arbeit kann sehr erfüllend und persönlichkeitsbildend sein. Sie kann das Engagement für Gesellschaft und Umwelt sehr fördern und die Sensibilität für die Kostbarkeit des Lebens in seiner Vielfalt vertiefen.“
(Maria Zemp) https://www.mariazemp.de/
Weitere hilfreiche Informationen finden Sie zum Beispiel hier: https://be-here-now.eu/was-passiert/symptome
oder auf dieser Seite auch in verschiedenen Sprachen: https://www.refugee-trauma.help
Umgang mit Traumafolgen
Was können Betroffene und Andere tun?
Da es in einer traumatischen Situation zu Ohnmachtserleben, Hilflosigkeit, Wehrlosigkeit gekommen ist, ist es notwendig, dass die Betroffenen wieder Sicherheit und Eigen-Kontrolle erlangen bzw. darin unterstützt werden. Sie bestimmen selbst, was für sie hilfreich ist, brauchen aber vielleicht eine Beratung über Möglichkeiten der Unterstützung, wie z. b. Traumafachberatung oder -therapie bei ausgebildeten Expert:innen im Bereich der Traumaarbeit. Auch ist es für die Betroffenen wichtig, dass sie selbst – wie ihr Umfeld – ihre Symptome und Verhaltensweisen als Traumafolgen verstehen und normale Reaktionen sind. Das Ereignis war unnormal!
Häufig kommt es – gerade im Alter, durch möglicherweise erneute Ohnmachtserfahrungen – zu Re-Aktivierung der früheren traumatischen Situation. Daher ist es wichtig, Unterstützung in der Re-Orientierung durch Aussenstehende zu bekommen. Und selbst Hilfen für sich selbst zu erlernen, wie z. B. Atemübungen, Achtsamkeitstraining, Bewegung. Es gibt sehr viele Übungen, Anregungen, sich zu beruhigen, zu re-orientieren.
Vertraute Personen oder entsprechend ausgebildete Begleitende können dabei unterstützen, mit der erlebten Extremsituation umzugehen. Diesen vertrauenswürdigen Personen in einem Maß vom Erlebten zu erzählen, das erleichtert, aber nicht überfordert, kann die Bewältigung fördern. Hier sollen auch Begleitende darauf achten, dass sie sich Gewalterlebnisse nicht in aller Ausführlichkeit erzählen lassen, um sich nicht zu überfordern. Es ist ratsam, sich als Betroffene Traumafachberatung oder psychotherapeutische Hilfe bei Traumatherapeut:innen zu holen. Im Vordergrund steht immer, dass sich alle Beteiligten in äusserer und innerer Sicherheit befinden.
Insbesondere bei älteren Menschen mit den verschiedenen Symptomen und Verhaltensweise wird häufig nicht an Traumafolgen gedacht, bzw. werden nicht als solche erkannt und/oder anderen (Alters-) Erkrankungen zugeordnet, wie z. B. der Demenz, HOPS (Hirnorganisches Psychosyndrom), ‚Altersverwirrtheit‘ oder einer ‚Altersdepression‘. Entsprechend werden oftmals ausschließlich die Symptome behandelt, ohne das Erleben und Verhalten in einen lebensgeschichtlichen Kontext zu setzen.
Daher ist Basiswissen zum Thema Trauma höchst sinnvoll für alle diejenigen, die alte Menschen begleiten, pflegen, behandeln und unterstützen.
Weitere hilfreiche Informationen finden Sie zum Beispiel hier: https://be-here-now.eu/selbstfursorge und hier: https://be-here-now.eu/was-passiert/sicherheit
oder auf dieser Seite auch in verschiedenen Sprachen: https://www.refugee-trauma.help
Bewältigungsstrategien
Die Erinnerung an vergangene traumatische Ereignisse konnte vielleicht jahre- oder jahrzehntelang mehr oder weniger erfolgreich durch Verdrängung bewältigt werden, durch z. B. viel Arbeiten, das Versorgen von Kindern und/oder anderen Angehörigen, aber auch durch Sport und anderen Aktivitäten oder durch Suchtmittelmissbrauch. Auf diese Möglichkeiten der Bewältigung von Gefühlen und der Erinnerung an die Ereignisse können oder wollen viele Frauen und Männer in der Situation des Älterwerdens, der Berentung, einer potentiellen oder tatsächlichen Pflegebedürftigkeit und eines zunehmenden Unterstützungsbedarfs häufig nicht mehr zurückgreifen. Im Alter haben die Menschen in der Regel mehr Zeit als bisher und nehmen dadurch unbewältigte Erlebnisse eher wahr. Es kann auch ein gefühlter Druck entstehen, sich noch „unerledigten Aufgaben“ stellen zu müssen. Zudem lässt im Alter das Kurzzeitgedächtnis nach und im Langzeitgedächtnis gespeicherte (traumatische) Erinnerungen können so wieder präsenter werden.
Aber selbstverständlich kann Verdrängung eine sinnvolle Bewältigung sein. Niemand sollte zum Sprechen gedrängt werden. Auch mag es Bewältigungsstrategien geben, die für Aussenstehende nicht nachvollziehbar sind, den Betroffenen aber viele Jahre geholfen haben und nun im Alter selbständig nicht mehr möglich sind. Dies sollten Begleitende respektieren und sie möglich machen, bzw. Alternativen schaffen.
Manchmal werden von Pflegenden und/oder Angehörigen Bewältigungsstrategien als „nicht gut“ bewertet und vielleicht „weggenommen“. Hier ist insbesondere an Suchtmittel aller Art zu denken. Aber auch dazu können Alternativen gefunden werden, wie z. B. alkoholfreies Bier / Wein / Sekt; Diabetikerschokolade oder -torte; Begleitung beim Rauchen, gesundheitliche Versorgung bei Abführmittelmissbrauch. Alles, was Betroffenen zur Bewältigung ihres Lebens hilft, ist (erstmal) gut und wird von ihnen selbst bestimmt und muss ihnen auch ermöglicht werden. Parallel ist eine Beratung zur Selbstfürsorge wichtig, zum Wohlfühlen, zur Verbesserung der aktuellen Situation und auch mit dem Ziel mögliche schädigende Strategien zu verändern. Auch bei Pflegemassnahmen oder ärztlichen Untersuchungen, die verweigert, weil sie vielleicht nicht ertragen werden, können gemeinsam Alternativen probiert werden. Manchmal muss von Aussenstehenden auch „einfach“ ausgehalten werden, dass bestimmte Massnahmen – die als sinnvoll oder notwendig für die Betroffenen erachtet werden – von ihnen (noch) nicht ertragen werden. Hier sind Geduld, Begleitung, Verständnis, Akzeptanz und Beratung angebracht.